»Wer bei ärmeren Familien von 'Bereicherung' redet, lebt hinterm Mond...«

KV StuttgartMeldung

Ende Juni machte eine Aussage des Wirtschaftsministeriums von BW Schlagzeilen in den Medien. Das Ministerium war der Ansicht, man könnte Zuschüsse für Schülertickets zurückfordern, die möglicherweise bereits an Sozialleistungen beziehende Eltern ausgezahlt worden sind. Grund war, dass diese Familien sich in den Sommermonaten ein wenig Geld sparen würden, wenn statt des regulären Schülertickets, das günstigere 9-Euro-Ticket zur Verfügung steht. Das Wirtschaftsministerium sprach in diesem Zusammenhang von „ungerechtfertigter Bereicherung.“ Nachdem es viel öffentlichen Druck gegeben hatte, wurde etwas zurückgerudert. Das Wirtschaftsministerium macht klar, dass es lediglich Auskunft über den rechtlichen Rahmen gegeben habe. Es liege im Ermessen der Jobcenter, zu entscheiden, wie solche Fälle gehandhabt werden.

In der Zwischenzeit schrieb Niels P., Mitglied der LINKEN in Stuttgart, eine Mail an den Kreisvorstand. Er war fassungslos über die Diskussion, dass man von zwei Jahren Corona und Teuerung betroffenen Familien jetzt einen Zuschuss entziehen wollte. Aus dem Schriftverkehr ergab sich ein Interview, das einen beispielhaften Einblick in die Situation von Familien in Stuttgart mit niedrigem Einkommen gibt. Niels P. heißt in Wirklichkeit anders – wir haben den Namen für die Veröffentlichung des Interviews geändert.

DIE LINKE. Stuttgart: Du lebst mit Deiner Partnerin und vier Kindern im Schulalter in Botnang in einer städtischen Sozialwohnung. Das Wirtschaftsminiserium sprach im Zusammenhang von Möglichen Rückforderungen für Schülerteicket-Zuschüssen von „ungerechtfertigter Bereicherung“. Wenn Du dann das hörst, was denkst Du Dir dabei?

Wenn ich das höre, dann bekomme ich erst mal 'nen Hals (lacht)… Wenn man im Zusammenhang von Leuten wie uns von Bereicherung redet, dann lebt man echt hinterm Mond. Wie kann man überhaupt auf die Idee kommen, dass man von ärmeren Familien etwas zurückfordert in einem reichen Bundesland wie Baden-Württemberg?
Uns geht es wie vielen anderen Familien auch – wer müssen sehr aufs Geld schauen. Ich war Berufskraftfahrer. Den Job kann ich aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr machen: der ganze Druck, Strecken, die man kaum schaffen kann, Parkplatzsuche auf den letzten Drücker, damit man die Pausenzeiten einhalten kann. Selbst wenn ich könnte, ich würde diese Arbeit nicht mehr machen wollen, aber das ist ein anderes Thema…
Jedenfalls, nach Bandscheibenvorfall und Herzinfarkt, kann ich nur noch wenige Stunden pro Woche arbeiten und bin ich jetzt in Erwerbsminderungsrente. Ich komme auf 955 Euro im Monat. Dann haben wir  das Ausbildungsgehalt von meiner Partnerin, dann Kindergeld und etwas Wohngeld. Zusammen kommen wir auf knapp 2.500 Euro im Monat. Wir wohnen zu sechst auf 90 Quadratmetern.

Wie läuft das mit dem Zuschuss für das Schülerticket eigentlich genau?
Also meines Wissens geht das auf zwei Arten. Die kannst dir das Scool-Abo vom VVS holen und dann wird das Geld am Anfang von jedem Monat vom Konto abgebucht. Dann reichst du monatlich den Kontoauszug als Nachweis bei der Stelle für Bildung und Teilhabe (BuT-Stelle) ein und bekommst die Erstattung. Die andre Variante ist, dass Du die Monatskarten am Automaten holst, ein Jahr lang sammelst und dann am Schluss alle zusammen einreichst. So machen wir das inzwischen – weil das Jahresabo sich in Corona mit dem vielen Homeschooling nicht mehr gelohnt hat.
Wenn ich das jetzt am Jahresende so mache, dann bekomme ich nicht den regulären Ticketpreis erstattet für Juni und Juli, sondern nur den für das 9-Euro-Ticket. Tja, und die sich das monatlich erstatten lassen und für Juni schon das Geld bekommen hatten, denen könnte das Jobcenter jetzt wieder ca. 30 Euro abnehmen, wenn ich das richtig sehe. Ich sage mal so: Mit den 30 Euro kann man mal mit den Kindern Eis essen gehen oder einen kleinen Ausflug machen. Die Familien waren in letzter Zeit eh total belastet. Wir haben Homeschooling gemacht. Wir haben das ganze Schulmaterial gezahlt. Die sollen den Leuten das bisschen Geld lassen. Ich hätte auch nicht dagegen, wenn die uns auch trotzdem den vollen Ticketpreis erstatten würden im Juni und Juli – dann hätten wir auch etwas von dieser Entlastungsmaßnahme mit dem 9-Euro-Ticket.

Im Moment steigen ja fast alle Preise u.a. für Benzin, Strom & Gas oder Lebensmittel. Wie wirkt sich das auf euch aus?
Mit vier Kindern und zwei Erwachsenen gibt man einfach viel für Lebensmittel aus. Vor dem Ukrainekrieg und der Inflation haben wir für einen Monat ca. 500 Euro im Supermarkt gelassen (wenn man auf Fleisch verzichtet). Inzwischen kommen wir kaum unter 650 Euro weg nur für Essen. Beim Essen können wir nur begrenzt sparen. Eines der Kinder hat eine Laktoseintoleranz – wir müssen die entsprechenden Produkte kaufen, und die kosten nun mal. Dann kommt Telefon, dann Kleidungsstücke, dann die Miete - 605,02 Euro, warm. Die Dreivierteltankfüllung fürs Einkaufenfahren ist auch viel teurer geworden. Für Strom zahlen wir schon 150 Euro im Monat. Dann Versicherungen für KfZ und die Berufsunfähigkeitsversicherung für Kinder auch über 200 Euro im Monat.

Früher blieb uns nach allen regulären Ausgaben ein Puffer von ca. 400 Euro – da konnte man was zurücklegen z. B. für Urlaub. Das hat sich inzwischen fast halbiert. Jetzt erhöht die SWSG uns die Miete auch noch ab Juli um 25 Euro.
Für alles ist Steuergeld da - 100 Milliarden für die Bundeswehr – aber für ein Leben ohne Existenzsorgen für die Mehrheit der Leute leider nicht. Da sollte DIE LINKE den Finger in die Wunde legen und sagen, dass das so nicht geht.